Die Vision ist eigentlich relativ einfach: Ein Teil einer Maschine ist gebrochen, man geht auf die Seite für Online-Ersatzteile nach dem Vorbild von Amazon, sucht die passenden Teile, bestellt, und ein paar Tage später wird es auch schon geliefert. Dass die Realität dieser Vision noch deutlich hinterher hinkt hat Gründe. Es liegt aber nicht nur an der hohen Komplexität, die Ersatzteile naturgemäß mit sich bringen.

Einer, der sich intensiv mit dem Thema Ersatzteile beschäftigt, ist Benjamin Reichenecker, CEO von PartsCloud. Die Amazon-Vision ist gar nicht so utopisch und durchaus umsetzbar, behauptet er, bis dahin ist es allerdings noch ein weiter Weg mit vielen Baustellen. In der Gegenwart sieht der Experte vor allem ein großes Problem in einer mangelhaften Service- und Kundenorientierung. „Die Unternehmen kümmern sich sehr stark um Digitalisierung und Industrie 4.0. Der gesamte After-Sales-Prozess wird bis heute aber bei vielen mittelständischen Unternehmen ziemlich stark vernachlässigt“, so Reichenecker. Oftmals scheitert es daran das gesamte Thema strategisch aufzubauen. „Stammdatentechnisch sind die Voraussetzungen denkbar schlecht. Gerade bei älteren Maschinen ist oft nichts sauber dokumentiert“, sagt Reichenecker. Gleichzeitig sind die Bestände von Ersatzteilen vor allem bei mittelständischen Firmen deutlich zu gering. „Der Mittelstand muss es schaffen, einen Großteil seiner Ersatzteile auch ab Lager lieferbar zu haben“, fordert Reichenecker, vor allem auch in Anbetracht der aktuellen Lieferkettenstörungen bedingt durch Corona-Pandemie und Ukraine-Krieg.
Natürlich haben einige Firmen verstanden, dass mit gutem Service auch ein gutes Geschäft zu machen ist. Diese sind auch entsprechend erfolgreich. „Das große Problem ist aber, dass die allermeisten mittelständischen Unternehmen nicht die notwendige Infrastruktur und das Logistik-Netzwerk haben, um den gesamten Ersatzteilprozess hoch performant hinzubekommen“, weiß Reichenecker. So werden Maschinen oft quer über den Planeten in verschiedene Länder exportiert, dort fehlt es dann aber an Ersatzteilen und der dafür notwendigen Logistik. Die komplexe Aufgabe diese aufzubauen, verlangt nach mindestens einer Meta-Plattform, mit dem Kernfokus auf Ersatzteillogistik. Dass es einer effizienteren Ersatzteillogistik bedarf, wird auch aus klimatechnischen Gesichtspunkten deutlich: „Mit Lagern an verschiedenen Standorten kann eine enorme Menge an CO2 eingespart werden“, sagt Reichenecker. Gleichzeitig sorgen Ersatzteile für eine längere Lebensdauer von Anlagen, wodurch ebenfalls CO2, vor allem aber auch Rohmaterial, eingespart wird. Dazu kommt, dass in Krisenzeiten das Erhalten von bestehenden Maschinen immer eine größere Rolle zukommt.
Gemeinsam Großes erreichen
Es gibt also genug Gründe, die für eine effiziente Versorgung mit Ersatzteilen sprechen. Wie kommt man aber nun von der Vision zur Realität? „Es gilt das Ganze strategisch aufzubauen. Eine entsprechend lückenlose und digitale Datenpflege ist ein erster wichtiger Schritt“, sagt Reichenecker, der aber wesentlich weiter geht: „Derzeit werden Ersatzteile in der Regel direkt beim Produzenten gekauft. In Zukunft kann das über eine dezentrale Plattform laufen, wo die Ersatzteile firmenübergreifend bezogen werden können. Das inkludiert weltweit verbreitete dezentrale und transparente Bestände. Wir werden dann keine Lieferketten mehr sehen, sondern Liefernetzwerke. Dadurch reduziert sich auch die Abhängigkeit von einzelnen Lieferanten“, sagt Reichenecker. Für die Produzenten wird der After-Sales dennoch ein attraktives Geschäftsmodell bleiben. „Digitale Technologie wird es ermöglichen, dass die Hersteller daran partizipieren“, sagt der Experte.
Dafür ist aber noch einiges an Überzeugungsarbeit notwendig. „Bei Start-ups gibt es sehr viel Offenheit für das Thema und es werden oft sehr schnell Entscheidungen getroffen, in der Industrie herrscht aber oft noch ein ganz anderes Mindset vor. Wir würden uns wünschen, dass Service Verantwortliche stark empowert werden von ihren Geschäftsführern und der After-Sales noch viel mehr an Bedeutung gewinnt“, sagt Reichenecker, der an eine gemeinsame Kraftanstrengung appelliert: „Wir würden uns freuen, wenn sich mehr Firmen damit auseinandersetzen, wir setzen hier sehr viel auf Partnerschaft.“ Schließlich ist so eine große Aufgabe, an der so viele Unternehmen und Menschen beteiligt sind, nur gemeinsam zu lösen.
Mehr zum Experten Benjamin Reichenecker Diplom-Wirtschaftsingenieur (FH)

Benjamin Reichenecker hat nach seinem Studium als Diplom-Wirtschaftsingenieur (FH) mehr als 8 Jahre in Beratungsunternehmen gearbeitet. Dabei lag sein Fokus auf der Optimierung von After Sales Service und Ersatzteilgeschäften bei mittelständischen Industrieunternehmen. Nach seiner Zeit als Berater übernahm er selbst praktische Verantwortung als Bereichsleiter Services & Parts für einen mittelständischen Maschinenbauer, in welchem er u.a. dessen Ersatzteilgeschäft konsequent modernisiert & digitalisiert und somit innerhalb von 2 Jahren auf branchenführendes Niveau brachte. Dabei erhöhte er insbesondere die Kennzahlen Verfügbarkeit von <60 auf >97,5% und senkte die Lieferzeit von durchschnittlich >30 auf <5 Tage. Nach der Übernahme des Mittelständlers durch einen Großkonzern führte er das gleiche Projekt noch einmal für die Ersatzteilversorgung des neuen Eigentümers durch. Die dabei gesammelten Erkenntnisse bilden die Grundlage für das Unternehmen PartsCloud, welches er 2021 zusammen mit Fabian Gemmecke gründete